查看原文
其他

阿恩特丨“欧墨尼德斯沉睡着”——论现代性的脆弱性

阿恩特 伦理学术 2024-04-22






编者按


本期推送A. 阿恩特(Andreas Arndt)教授的讲座德文文本。


在此预告,九月开始的“黑格尔与现代世界”(Hegel und die moderne Welt)系列讲座——“国际著名黑格尔专家”专场,阿恩特教授将作为第一场主讲人,于9月2日作题为“»Die Eumeniden schlafen«: Über die Fragilität der Moderne ”(“欧墨尼德斯沉睡着”——论现代性的脆弱性)的学术报告,敬请关注、期待!



恩特(Andreas Arndt):德国著名黑格尔哲学、施莱尔马赫哲学专家,柏林洪堡大学教授(荣休于2018年)。代表作:《辩证法与反思》(1994),《康德之后的德国古典哲学》(2012,与W. Jaeschke合著),《作为哲学家的弗里德里希·施莱尔马赫》(2013),《历史与自由意识》(2015)等。现任主要职务:国际黑格尔协会名誉主席,《国际德国观念论年鉴》顾问委员会成员,De Gruyter 《马克思研究》系列共同出版者,《黑格尔研究》顾问委员会成员等。


文认为,黑格尔在其惩罚理论中,将对不法的报复解释为被犯罪所唤醒的欧墨尼德斯的行为。因此,她们与其说是复仇女神,毋宁说是法(νόμος)的仆人。然而,有待回答的问题是,当人们关于法的共识破裂时,厄里尼厄斯——根据古代传说,雅典娜首次使厄里尼厄斯成为“善意的”神——本身是否还会被再度唤醒。

黑格尔对于埃斯库罗斯的戏剧《俄瑞斯忒亚》的诠释表明,欧墨尼德斯应被视为自然的永恒力量,这些力量必须被不断控制与安抚。黑格尔的这一看法不仅适用于古代(黑格尔在《精神现象学》中将古代描述为人法与神法的斗争),而且也适用于现代道德。现代道德的特征被一种不可改变的分裂所刻画:在道德之中,需求体系接替了欧墨尼德斯的地下世界的位置,并且以在“暴民”中表现出来的活力破坏着法的共识。暴民在现存法律中不再能找到其权利的表达。在这样的暴民的愤怒中,厄里尼厄斯以其最原初的方式醒来了。





《伦理学术11——美德伦理的重新定位》

2021年秋季号总第011卷

邓安庆 主编

上海教育出版社丨2021年12月 






“欧墨尼德斯沉睡着”

——论现代性的脆弱性

»Die Eumeniden schlafen« 

Über die Fragilität der Moderne




A. 阿恩特(Andreas Arndt)/著


▲ 本文作者:阿恩特(Andreas Arndt)教授



In his theory of punishment, Hegel interprets the retribution of injustice as the act of the eumenides who have been awakened by the crime. They are thus servants of law (νόμος) rather than goddesses of vengeance. Nevertheless, the question remains whether the Erinyes, who according to the ancient myth were first made the well-meaning (Eumenides) by Athena, cannot also reawaken as such when the legal consensus breaks down. Hegel’s interpretation of Aeschylus’ Oresteia shows that the Eumenides are to be regarded as permanent powers of nature that must be constantly controlled and appeased. This is true not only for antiquity – depicted by Hegel in the Phenomenology of Spirit as the struggle of human with divine law – but also for modern morality, which is characterized by an irrevocable rift: the system of needs takes the place of the underworld of the Eumenides in the midst of morality and undermines the legal consensus with its dynamics in the «rabble». In the indignation of those who no longer find their right in the existing law, the Erinyes awaken in their original form. 


Keywords: Right, Vengeance, Punishment, Nature, Spirit, Civil Society.


▲ 欧墨尼得斯(Eumenides)是希腊神话和罗马神话中专司复仇的三女神。由不安女神阿勒克图(Alecto)、嫉妒女神墨纪拉(Megaera)、报仇女神底西福涅(Tisiphone)组成。






1



Im Handexemplar zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts findet sich eine auf den ersten Blick rätselhafte Formulierung in Hegels Notizen zum Paragraphen 101, der von der Aufhebung des Verbrechens als »Wiedervergeltung« handelt: »die Eumeniden schlafen« . Rätselhaft zunächst deshalb, weil die Eumeniden – »die Wohlmeinenden« – dem antiken Mythos zufolge ja gar nicht schlafen, sondern – als matriarchale Erdgottheiten – unentwegt für die Fruchtbarkeit des Bodens, der Tiere und der Menschen Sorge tragen und dafür Verehrung genießen. Rätselhaft ist die Stelle auch deshalb, weil, so Hegel weiter, die schlafenden Eumeniden erst hervortreten, wenn sie durch die Tat des Verbrechers gerufen werden. Aus der Perspektive des Mythos wäre dies eine Grenzüberschreitung, denn die Eumeniden sind die umgewandelten und gezähmten Rachegöttinnen, die ihre Funktion an die weltliche Gerichtsbarkeit der Polis verloren haben. Es gilt, auch in der Blutgerichtsbarkeit, menschliches Gesetz, νόμος. Die Eumeniden würden daher nicht als die Wohlmeinenden erwachen, sondern als Erinnyen, sie würden in ihr altes Dasein als Rachegöttinnen zurückfallen. 


Zwar gebraucht Hegel die Bezeichnungen »Eumeniden« und »Erinnyen« in der Regel bewusst in gleicher Bedeutung – wie es übrigens auch schon bei Euripides, etwa in seinem Orest der Fall ist – , aber das Erwachen der Eumeniden erfolgt im Zusammenhang der zitierten Stelle im Rahmen des νόμος, des modernen Rechts, das auf der Freiheit und Gleichheit Aller als Rechtspersonen beruht, und nicht im Rahmen einer vormodernen Rechtsauffassung oder gar im Rahmen archaischer, naturwüchsiger Rechtsvorstellungen. Kurz gesagt: Der Verbrecher erleidet eine gesetzliche Strafe, aber nicht Rache. Die Eumeniden stehen damit, schlafend wie wachend, unter der Ordnung des neuen Rechts, das die Zähmung der Erinnyen und ihre Transformation zu Fruchtbarkeitsgöttinnen verlangte. 


Was bedeutet es dann aber, dass die alten Göttinnen weiterhin im Recht hausen, sofern dieses die Wiedervergeltung des Unrechts verlangt? Es bleibt, so scheint es, auch im modernen Recht ein archaisches Moment, auch wenn es nicht um Blutrache, sondern um die Aufhebung des Verbrechens und damit letztlich um die Versöhnung des Unrecht verübenden Individuums mit dem Allgemeinen geht. Mehr noch: Außerhalb der modernen Rechtsordnung können weiterhin die Eumeniden in ihrer ursprünglichen Gestalt als Erinnyen oder Furien auftreten, wie in der Phänomenologie des Geistes als »Furie des Verschwindens« – und dies ist nicht die einzige Gestalt, in der das untere Gesetz der chtonischen Gottheiten sich wieder Geltung zu schaffen vermag, denn das Unrecht kann auch die Rechtsordnung selbst in Frage stellen, durch welche die Erinnyen befriedet wurden. Unter der Oberfläche der modernen Zivilisation, die für Hegel wesentlich durch das Recht als Dasein der Freiheit geprägt ist, schlafen weiterhin die Gottheiten, deren Tun die Zerstörung als reine Negativität ist. Wo sie nicht mehr gebändigt werden können, droht der Verlust derjenigen Welt, welche, Hegel zufolge, das Werk des (menschlichen) Geistes ist, der »sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt« . 


▲ 《俄瑞斯忒亚》(Orestes)三联剧剧照


Wenn das so ist, dann enthält Hegels Philosophie das Moment einer tiefen Beunruhigung über die Haltbarkeit der modernen Zivilisation, welches zwar nicht dominiert und auch nicht in einen Pessimismus gegenüber der Vernunft umschlägt, jedoch latent vorhanden ist. Es ist ein Moment, das die Geschichte der Vernunft und der Freiheit in der Weltgeschichte schon immer begleitet hat, denn, in Hegels Worten, man könne die Erfolge des Bösen in der Geschichte 


ohne rednerische Übertreibung blos mit richtiger Zusammenstellung des Unglücks […] zu dem furchtbarsten Gemählde erheben, und ebenso damit die Empfindung zu der tiefsten, rathlosesten Trauer steigern, welcher kein versöhnendes Resultat das Gleichgewicht hält[;] 


in dieser Betrachtung sei die Geschichte eine 


Schlachtbank […], auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden sind . 


Im Folgenden möchte ich den Gründen für diese Beunruhigung nachgehen, indem ich zunächst (2) auf das Problem der Wiedervergeltung eingehe und dann (3) die für Hegel maßgebliche Darstellung des antiken Mythos in Aischylos’ Eumeniden sowie Hegels Interpretation dieser Tragödie skizziere, die auf das Versöhnende der Rechtsordnung (νόμος) abhebt. Die Bedrohung der Rechtsordnung ruft indessen die Erinnyen wieder auf den Plan; wo und wie das bei Hegel der Fall ist, wird in einem weiteren Schritt gezeigt (4).


▲ 阿恩特教授著作:《辩证法与反思:论理性概念的重构》(Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftsbegriffs, Felix Meiner, 1994)书影






2



Nach Hegels Auffassung ist das Unrecht, das Wiedervergeltung fordert, »zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist« . Das besagt, dass das Unrecht im strikten Sinne keine Wirklichkeit hat, sofern es nicht als Realisierung der Vernunft gelten kann. Es ist ein Negatives, das nur negativ behandelt werden kann und muss. An dem »an sich seyenden Willen«, dem Recht bzw. Gesetz, hat die Verletzung, so Hegel im § 99 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, keine positive Existenz, und auch für den Verletzten und die »Uebrigen« (die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft) ist die Verletzung »nur etwas Negatives«; eine positive Existenz hat das Verbrechen nur »als der besondere Wille des Verbrechers«. Gegen diesen besonderen Willen, der sich dem an sich seienden allgemeinen Willen als Recht entgegenstellt, hat sich die Wiedervergeltung zu richten – sie ist nicht Wiedergutmachung (diese gilt als »Ersatz«, soweit als möglich, nur für Eigentums- oder Vermögensschäden; § 98) und auch nicht Herstellung moralischer Gerechtigkeit, Abschreckung u.s.w., sondern sie ist Negation einer nichtigen, bloßen Existenz. Es komme darauf an, dass das Verbrechen »als Verletzung des Rechts als Recht aufzuheben ist, und dann welches die Existenz ist, die das Verbrechen hat und die aufzuheben sei« – wohlgemerkt: nicht die Existenz des Verbrechers, sondern seines besonderen Willens . 


Die Verletzung oder Brechung dieses Willens wird von Hegel dabei nicht nur als die Wiederherstellung der Geltung des an sich seienden Willens als Gesetz verstanden, das auch den Verbrecher einschließt, sondern zugleich auch »ein Recht an den Verbrecher selbst, d.i. in seinem daseyenden Willen, in seiner Handlung gesetzt« . Nicht nur der an sich seiende Wille, sondern auch der besondere – der daseiende – Wille enthält etwas, was in diesem Willen selbst der Strafe Recht gibt. Hierbei setzt Hegel voraus, dass das Verbrechen die Handlung »eines Vernünftigen« ist. Das besagt nicht, dass die Handlung als solche vernünftig ist, aber es besagt, dass sie, insofern sie auf dem Willen basiert, in ihr wenigstens formell ein vernünftiges Moment gegeben ist. Dieses besteht darin, dass die Handlung »ein allgemeines, dass durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er [der Verbrecher, A.] in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also, als unter sein Recht subsumirt werden darf«. In der Nachschrift Wannemann zur Rechtsphilosophie-Vorlesung 1817/18 wird dieser Gedanke dahingehend präzisiert, dass dadurch, dass das Verbrechen das Recht und damit die Freiheit eines anderen verletzt, der Verbrecher das Gesetz aufgestellt habe, es sei »Recht die Freyheit zu verletzen, und durch seine Handlung hat er dies Gesetz anerkannt« . 


Der Verbrecher gerät damit in einen Selbstwiderspruch. Er anerkennt ein allgemeines Gesetz, das aber zugleich nur ein besonderes im Gegensatz gegen die Allgemeinheit ist. Er hat, so heißt es in der Nachschrift Wannemann, »den einzelnen, alle, und sich selbst verletzt, er hat das allgemeine verletzt, ie [id est], negativer Weise, und positiv hat er sie anerkannt, indem es die Handlung eines Vernünftigen ist« . Vernünftig ist der Verbrecher, sofern er zumindest implizit das Allgemeine im Blick hat, das er zugleich verletzt; er verletzt sich damit selbst in seiner Vernünftigkeit und widerspricht sich zugleich. Dies rechtfertigt es für Hegel, das Negative des Verbrechens durch Strafe als Wiedervergeltung zu negieren und dadurch dem an sich seienden Willen als Recht wieder Geltung zu verschaffen. 


Das Unrecht ist, wie zu Beginn dieses Abschnitts zitiert, »in sich nichtig« und diese Nichtigkeit bildet »den Kern der Hegelschen Straftheorie« . In sich nichtig ist etwas, was existiert, aber keine Realisierung des Begriffs darstellt. Als Negation des Rechts steht das Verbrechen außerhalb des Rechts und negiert es äußerlich. Es ist das, was im Griechischen als έκδικος bezeichnet wurde und sowohl »gesetzlos« als auch »rächend« bzw. »strafend« meint, ein Gleichklang, der, wie gleich noch zu zeigen ist, auch bei Hegel eine Rolle spielt. Worauf bezieht sich nun die Negation des in sich Nichtigen durch das Recht? Die Strafe, so wurde bereits gesagt, bezieht sich nicht auf Wiedergutmachung oder Abschreckung, sondern auf die positive Existenz des Verbrechens im besonderen Willen des Verbrechers. Dieser Wille ist durch das Recht zu brechen, sofern sich in diesem Willen das Besondere, ungeachtet der Anerkennung eines Allgemeinen, gegen das Allgemeine richtet, indem es sich selbst zum Allgemeinen erhebt. Die rechtliche Wiedervergeltung richtet sich gegen diesen Willen, indem sie dem an sich seienden Willen als Gesetz gewaltsam, unter Verletzung des besonderen Willens, Geltung verschafft. Sie eliminiert gewissermaßen die eine Seite des Selbstwiderspruchs in der Willensbestimmung des Verbrechers. Die Negation des Negativen bedeutet keine Aufhebung im Sinne des Aufbewahrens auf einer höheren Stufe, denn das Verbrechen ist kein Moment des Rechts und als etwas in sich Nichtiges – im Gegensatz zum Recht als Dasein der Freiheit – auch außerhalb des Begriffs. Umgekehrt ist das Recht im Gegensatz zum Verbrechen auch »das nicht äußerlich existirende und insofern das Unverletzbare« 11. Die negative Behandlung des in sich Negativen durch das Recht ist daher auch nicht als Negation der Negation zu verstehen, denn diese Behandlung fällt in die Äußerlichkeit zum Begriff und nicht in die Bewegung des Begriffs . 


In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, dass Verbrechen und Strafe nicht Momente eines Kampfes um Anerkennung sind. Das Anerkennen, von dem Hegel spricht, bezieht sich ausschließlich und durchgängig auf das Anerkennen eines Allgemeinen und nicht auf die Anerkennung eines anderen Selbstbewusstseins . Die anerkennungstheoretische Interpretation der Hegelschen Straflehre – die Strafe sei »Wiederherstellung der Anerkennungsbeziehung« der Individuen als Personen  – übersieht, dass Hegel sich bei Recht und Staat nicht auf Anerkennungsprozesse im Sinne des Kampfes um Anerkennung, sondern auf einen Zustand des Anerkanntseins bezieht: »Im Staate gilt jeder als anerkannt und anerkennend, daß er sich die blosse Unmittelbarkeit der Begierde, des Unrechts, des Gelüstens abgethan und gehorchen gelernt habe« . In diesem Zustand ist der Kampf um Anerkennung schon immer aufgehoben und das Anerkanntsein wird durch die Gewalt des Rechts aufrechterhalten: »Gewalt ist nicht Grund des Rechts – sondern Recht ist Grund der Gewalt – Recht hier freyes Selbstbewusstsein – das sich Daseyn gibt – d.i. Anerkanntseyn von andern – Anerkanntseyn- ist das Daseyn der Persönlichkeit im Staate überhaupt«. Nur aufgrund dieses Anerkanntseins im Rechtszustand kann der Verbrecher auch als ein Vernünftiger angesprochen und damit, wie Hegel betont, »geehrt« werden. Der Verbrecher ist durch das Recht schon immer anerkannt und anerkennt selbst, wenn auch auf eine selbstwidersprüchliche Weise, ein Allgemeines. 


Die Wiedervergeltung zwingt den besonderen unter den an sich seienden Willen des Rechts. Sie ist »Verletzung der Verletzung«, die im besonderen Willen ihr Dasein hat 18. Unter der Form des Rechts ist sie Strafe, aber an ihrem Ursprung, in der »Sphäre der Unmittelbarkeit des Rechts zunächst Rache, dem Inhalte nach gerecht« . Im Recht als Grund der Gewalt ist die Rache aufgehoben, transformiert zwar, aber noch immer als Gewalt anwesend, auf dem Sprung, die Verletzung des Rechts durch das Verbrechen durch die Verletzung des besonderen Willens des Verbrechers zu vergelten. Was sich bei der rechtlichen Strafe gegenüber der Rache geändert hat, ist, so Hegel, nicht der gerechte Inhalt der Wiedervergeltung, sondern die Form der Willensbestimmung in der strafenden gegenüber der rächenden Handlung. Die rächende Handlung ist »der Form nach«, wie auch das Verbrechen, »Handlung eines subjectiven« bzw. »besondern Willens«, der auch für den Verbrecher »nur als besonderer ist« 20. Der Rache fehlt demnach wie dem Verbrechen eine vernünftige Allgemeinheit – die Allgemeinheit des Rechts –, und sie verfällt daher, indem die Wiedervergeltung erneute Vergeltung hervorruft, »in den Progreß ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte fort«. 


Dies ist offenkundig vor allem bei der Blutrache der Fall, bei der alte Rechnungen nicht verjähren und die Tilgung der Schuld durch Rache neue Schuld hervorruft. In der griechischen Mythologie war die Rache, speziell die Blutrache, Sache der Erinnyen. Im Rechtszustand, in dem gesetzliche Strafe an die Stelle der Rache getreten ist, erfolgt zwar noch die Wiedervergeltung als Verletzung der Verletzung, aber nun nicht mehr durch einen besonderen, sondern durch einen an sich seienden allgemeinen Willen, das Gesetz, welches in dem Verbrecher noch dessen Vernünftigkeit, das Moment der Allgemeinheit in seiner besonderen Willensbestimmung, ehrt. Insofern weckt der Verbrecher nicht die Erinnyen, sondern die Eumeniden, die zu den »Wohlmeinenden« transformierten Rachegöttinnen, die strafen, um die vernünftige Allgemeinheit des Rechts aufrecht zu erhalten und zu bewahren. Es sind aber noch immer die alten Gottheiten, die fortwährend besänftigt werden müssen, um wohlmeinend zu bleiben. Sie sind noch da. Wenn das Recht seine Kraft verliert, können sie auch als Furien wieder auferstehen. 


▲ 阿恩特教授著作:《历史与自由意识》(Geschichte und Freiheitsbewusstsein, Owl of Minerva Press Gmbh, 2015)书影






3



Hegels Erzählung von der Transformation der Rache in den Rechtszustand als Strafe hat ihre mythologische Entsprechung in der Orestie des Aischylos. Die Urszene der Geburt des Rechts findet sich in dem dritten, den tragischen Zyklus abschließenden Teil, den Eumeniden. Die Orestie wurde im Frühjahr 458 v. Chr. Uraufgeführt, nachdem kurz zuvor, in den Jahren 462/461 v. Chr., auf Betreiben des Ephialtes der Areopag all seiner politischen Befugnisse beraubt worden war; es blieb ihm lediglich die Rechtssprechung über die Blutgerichtsbarkeit. Auf diese Ereignisse spielt Aischylos an, indem er die mythische Einsetzung des Areopags durch die Schutzgöttin der Stadt, Athene, beschwört 21. Aufgeführt wird ein Kampf der neuen, olympischen Gottheiten mit den alten, chtonischen Gottheiten, den Erinnyen, und beide Seiten repräsentieren bzw. stiften unterschiedliches Recht: die alten Gottheiten das Gesetz der Blutrache, die neuen Gottheiten das gesetzte Recht, den νόμος, den Athene in ihrer Polis einführt. Zugleich geht es auch um die Ablösung des Mutterrechts, für das die Erinnyen stehen, durch das Patriarchat, das die aus dem Haupt des Zeus entsprungene Jungfrau Athene verkörpert, denn der Fall, der verhandelt wird, ist Muttermord. 


Orest hat den Mord an seinem Vater Agamemnon durch den Mord an der Mörderin, seiner Mutter Klytaimestra, gerächt, deren Schatten aus dem Totenreich heraus wiederum die Erinnyen zur Rache an ihrem Sohn aufstachelt. Orest, flieht in den Delphischen Tempel des Apollon, um von dem Gott Schutz und Entsühnung zu erhalten. Apollon gewährt ihm diesen Schutz, wobei er den Richterspruch Athene überlässt. Orest findet daraufhin im Tempel der Athene Zuflucht, die sich des Verfolgten annimmt und den Areopag »fest für alle Zeit« 22 als geschworene Richter in Mordsachen einsetzt. Im Vorfeld allerdings stellt Athene klar, dass ein Richterspruch allein nicht ausreicht, die Ansprüche der alten und neuen Götter zu versöhnen, denn den Erinnyen 


bleibt ein Anspruch, nicht leicht abweisbar; 

Und geht für sie nicht diese Sache siegreich aus, 

Befällt das Land hier, als ein Gift aus ihrer Brust 

Zu Boden träufend, unerträglich grausge Pest. 


In dem anschließenden Prozess fungiert Apollon als Verteidiger des Orest und Athene als Vorsitzende des Gerichts. Nach dem Mutterrecht ist der Mord an der Mutter, also der des Orest an Klytaimestra, das schwerste Verbrechen, während Klytaimestras Mord an dem Gatten und Vater, Agamemnon, weniger ins Gewicht fällt. Nach dem neuen, patriarchalischen Recht der olympischen Götter dagegen ist die Ehe heilig und der Vater die wichtigste Figur, während die Mutter, wie Apollon ausführt, nur Nährerin ist. Dass die Mutter im Zweifelsfalle ganz entbehrlich ist, verkörpert die kopfgeborene Athene. Sie schließt sich dem neuen Recht an, indem sie den entscheidenden Stimmstein für Orests Freispruch abgibt. Zugleich aber sorgt Athene dafür, dass die Erinnyen befriedet werden. Sie haben – neben den olympischen Göttern – künftig in Athen kultische Verehrung zu genießen, wenn sie im Gegenzug als die Wohlmeinenden, die Eumeniden, für die Fruchtbarkeit und das Wohlergehen der Polis sorgen. Nur durch Stimmengleichheit – und damit ehrenhaft – unterliegen die Erinnyen, eine Bedingung dafür, dass sie in die neue Ordnung des göttlichen und menschlichen Rechts eingebunden werden können. 


Hegel hat sich, vor allem in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, mehrfach mit dieser Erzählung auseinandergesetzt. Dabei werden drei Gesichtspunkte besonders hervorgehoben. Der erste Gesichtspunkt betrifft den Status der Rachegottheiten zwischen substantieller Sittlichkeit und Subjektivität. Die Rache des Orest an seiner Mutter für ihren an seinem Vater begangenen Mord, so heißt es in der Nachschrift zur Vorlesung 1826, erfolgte auf Geheiß Apolls (durch das Orakel zu Delphi), weshalb Orest »die Gerechtigkeit, das Recht als Rache« vollzog; es sei »ein Sittliches und ganz Menschliches« und »die Eumeniden, das Gewissen geht ihn nichts an« . Das Gewissen konvergiert aber – dies ist meines Erachtens die Pointe von Hegels Interpretation – mit dem Recht als Rache, das als Sittliches und Menschliches dem Handelnden nicht äußerlich ist: »Die Erinnyen sind ebensowenig äusserliche Götter, sie sind das Gewissen, das Innere, einmal äusserlich mit dieser Gestalt, das andere Mal das Gewissen als solches«. Werden sie als »subjektive Empfindung des erlittenen Unrechts« vorgestellt, so werde »dieß Unrecht als Macht ausgestellt und ausgesprochen […], die den treffen muß der sich die Erinnyen zugezogen hat«. Offenkundig besteht hier eine Parallele zu den Ausführungen Hegels im Paragraphen 102 der Grundlinien der Philosophie des Rechts zur Unmittelbarkeit des Rechts, in der das Recht als Rache, nicht als Strafe exekutiert wird und der subjektive Wille dominiert, auch wenn er einer substantiellen Sittlichkeit folgt. 


Der zweite Gesichtspunkt betrifft den Kampf der alten und neuen Gottheiten im Streit der Erinnyen mit Apoll, der durch den Areopag und Athene geschlichtet wird. Dabei betont Hegel, dass die Erinnyen nur »nach unserer Vorstellung« als »furien, Haß, Böses« gedacht werden, also als bloß subjektiv; jedoch: »Bei den Griechen sind es die Wohlgesinnten, die das Recht geltend machen« . Hier wird deutlich, weshalb Hegel Erinnyen und Eumeniden zumeist gleichsetzt und den Wandel der Bezeichnung, anders als in der Orestie des Aischylos, nicht mit ihrer Befriedung durch Athene verbindet. Bereits die Erinnyen als die alten Rachegöttinnen sind wohlmeinend, ευμενής. Hierzu heißt es in den Vorlesungen über die Religionsphilosophie: »Die Erinyen sind Darstellung der eigenen Tat des Menschen und das Bewußtsein, das ihn plagt, peinigt, insofern er diese Tat als Böses in ihm weiß. Sie sind die Gerechten und eben darum die Wohlmeinenden, Eumeniden« . Da sie nicht äußerlich vorgestellt werden, sondern die Unmittelbarkeit des Rechts und das Gewissen repräsentieren , sind die Erinnyen bzw. Eumeniden nach Hegels Auffassung keine reinen Naturmächte mehr, sondern haben schon die Seite des Geistigen an sich; sie unterscheiden sich von den neuen, olympischen Göttern dadurch, 


daß sie die Seite des Geistigen sind als einer nur innerlich seienden Macht […]. Aber weil nur in sich seiende Geistigkeit nur die abstrakte rohe, noch nicht die wahre Geistigkeit ist, so sind sie den alten Göttern zugerechnet; sie sind diese Allgemeinen, zu Fürchtenden: die Erinyen nur die innerlich Richtenden . 


Die Orestie zeigt demnach den »Übergang von den natürlichen zu den geistigen Göttern«, die nur noch »mit einem Anklang des Natürlichen« versehen sind . Auf das Recht bezogen ist dies der Übergang vom unmittelbaren Recht zum politisch bewusst gesetzten Recht, νόμος. Zeus, so Hegel, ist »der politische Gott, der Gott der Gesetze, der Herrschaft, aber der bekannten Gesetze. Da gilt das Recht nach offenen Gesetzen, nicht die Gesetze des Gewissens. Das Gewissen hat im Staat kein Recht, sondern die Gesetze (das Gesetzte)« . – Unklar bleibt, was genau der »Anklang des Natürlichen« im Blick auf das Recht bewirkt. Und irritierend bleibt, dass die alten Gottheiten neben oder unter den neuen weiterhin im gesetzten Recht anwesend sind – wenn auch als schlafende – und in ihm weiterhin eine rechtliche Gewalt ausüben können. 


Der dritte Gesichtspunkt schließlich, den Hegel hervorhebt, betrifft die Versöhnung durch das Recht. 


Die Gerechtigkeit ist es die zustande kommt, was der Fall sein kann ohne den Untergang der Individuen wie z.B. in den Eumeniden des Aeschylus, wo Orest von den Furien verfolgt wird, die Sache kommt vor den Areopag, hier treten die Eumeniden auf und klagen die M枚rder an, der Areopag gesteht beiden ein gleiches Recht zu, widmet den Eumeniden einen Altar, wie auch dem Orest und dieser, in welchem sittliche Mächte in Conflikt gerathen waren, wird nicht verdammt, das Resultat ist also Versöhnung der Strafe, der Rache. 


Das Recht versöhnt, indem es das Individuum erhält und zugleich das Bedürfnis nach Rache befriedet; es durchbricht den unendlichen Progress von Vergeltung und Wiedervergeltung und stabilisiert damit das Gemeinwesen. Diese Stabilisierung gelingt aber nur dann, wenn die Naturmächte, die in der neuen, geistigen Welt noch immer hausen und walten, fortdauernd besänftigt bleiben.


▲ 阿恩特教授著作:《作为哲学家的施莱尔马赫》(Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Walter de Gruyter, 2013)书影






4



Anhand der Phänomenologie des Geistes lässt sich verfolgen, wie die Erinnyen als solche, als chtonische Gottheiten vor ihrer Transformation in die Eumeniden, im Sittlichen wieder auferstehen können – und auch, wie Hegel diese Bedrohung in der Moderne zu bannen sucht. Die Erinnyen sind, so heißt es im Abschnitt über die »Kunst-Religion«, das »untre Recht«; es »sitzt mit Zevs auf dem Throne, und genießt mit dem offenbaren Rechte und dem wissenden Gotte gleiches Ansehen« . Der Gegensatz der göttlichen bzw. sittlichen Substanz und des Selbstbewusstseins, der die Tragödie durchzieht, versöhnt sich durch das Vergessen, »die Lethe der Unterwelt im Tode, – oder die Lethe der Oberwelt, als Freysprechung, nicht von der Schuld, […] sondern vom Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung« . Mit dieser Rückkehr des Gegensatzes »in den einfachen Zevs« anerkennt das Selbstbewusstsein 


nur Eine höchste Macht, und diesen Zevs nur als die Macht des Staats oder des Heerdes, und im Gegensatze des Wissens nur als den Vater des zur Gestalt werdenden Wissens des Besondern, – und als den Zevs des Eydes und der Erinnye, des Allgemeinen, im Verborgnen wohnenden Innern. 


Die Erinnyen als das untere Recht sind hiermit als ein Allgemeines in das Innere des sich im Zeus repräsentierenden menschlichen Selbstbewusstseins verlegt – als Gewissen, womit im Grundsätzlichen eine moderne Struktur erreicht ist, die sich als sittliche Autonomie beschreiben ließe. Gleichwohl bleibt auch hier die Frage, welchen »Anklang des Natürlichen« dieses Innere behält. 


Worum es grundsätzlich geht, macht Hegel in der Phänomenologie in dem Abschnitt zur Sittlichkeit deutlich. Hier behandelt Hegel im Kontext seiner Rezeption von Sophokles’ Antigone den Konflikt zweier sittlicher Mächte: des offenbaren, bekannten Gesetzes (νόμος) des Staates und des göttlichen Gesetzes der Familie, das dem νόμος als ein natürlich-Sittliches entgegensteht. Es soll hier nicht darum gehen, Hegels Tragödientheorie und speziell seine Interpretation der Antigone zu erörtern , sondern allein darum, dass das gesetzte Recht einen Widersacher vorfindet, der eine natürliche Sittlichkeit repräsentiert, die zwar »ebensosehr ein Geist« sei wie alle Sittlichkeit, aber »als der bewußtlose noch innre Begriff« . Sie entspricht damit dem Status der Erinnyen, die mit dem Zeus – oder genauer: in dem Zeus – auf dem Thron sitzen. Beide sittliche Mächte – νόμος und göttliches Recht – können in Konflikt geraten (wie in der Antigone), finden aber in einer umfassenden Gerechtigkeit ihre Versöhnung. Wie der νόμος »das aus dem Gleichgewichte tretende Fürsichseyn, die Selbständigkeit der Stände und in Individuen in das Allgemeine zurückbringt«, so gibt es auch eine Gerechtigkeit, »welche das über den Einzelnen übermächtig werdende Allgemeine zum Gleichgewichte zurückbringt« . Es ist »der einfache Geist desjenigen, der Unrecht erlitten, – nicht zersetzt in ihn, der es erlitten, und ein jenseitiges Wesen; er selbst ist die unterirrdische Macht, und es ist seine Erinnye, welche die Rache betreibt«. An dieser Stelle nun gibt Hegel dem Gedankengang eine entscheidende Wendung. Wenn das Individuum zum Ding herabgewürdigt wird, dann sucht es sein Recht zu erzwingen, indem es zur Erinnye wird. Sein Gegner ist aber nach Hegel nicht das Allgemeine qua Staat und Recht, sondern es ist – die Natur, das abstrakte Sein selbst: 


Das Unrecht, welches im Reiche der Sittlichkeit dem Einzelnen zugefügt werden kann, ist nur dieses, daß ihm rein etwas geschieht. Die Macht, welche diß Unrecht an dem Bewußtseyn verübt, es zu einem reinen Dinge zu machen, ist die Natur, es ist die Allgemeinheit nicht des Gemeinwesens, sondern die abstracte des Seyns; und die Einzelnheit wendet sich in der Auflösung des erlittenen Unrechts nicht gegen jenes, denn von ihm hat es nicht gelitten, sondern gegen dieses.


Den Widerstreit der sittlichen Mächte hebt Hegel in den Rechtszustand und diesen in den sich entfremdenden Geist und die Bildung auf. Dieser Gang ist hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen, sondern es ist nur festzuhalten, dass mit der Entfremdung und Bildung die Welt der Moderne erreicht ist. Diese ist dadurch charakterisiert, dass der Geist hier in ein Selbstverhältnis getreten ist und darum auch weiß: 


Der Geist dieser Welt ist das von einem Selbstbewußtseyn durchdrungne geistige Wesen […]. Aber das Daseyn dieser Welt, so wie die Wirklichkeit des Selbstbewußtseyns beruht auf der Bewegung, dass dieses seiner Persönlichkeit sich entäussert, hiedurch seine Welt hervorbringt, und sich gegen sie als eine Fremde so verhält, daß es sich ihrer nunmehr zu bemächtigen hat . 


»Entfremdung« ist hier nicht im sozialkritischen Sinne des frühen Marx zu verstehen, sondern ist konstitutiv für die Struktur des Geistes und des Selbstbewusstseins überhaupt bei Hegel, das nur im reflexiven Verhältnis zu Anderem (dem Anderen seiner selbst) sich zu erfassen vermag . Die Bildung der geistigen Welt ist ein gegenüber den Individuen objektiver Prozess, und diese Welt haben die Individuen sich theoretisch und praktisch anzueignen. Nur so können sie aus derjenigen Fremdheit heraustreten, in der sie einem Sein – der erst anzueignenden Welt – ausgeliefert und damit zum Dinge gemacht sind. Die »Bildung« ist Bemächtigung und damit auch Umformung des gegebenen Seins; sie ist bereits der Gerechtigkeit der Erinnyen im Widerstreit der sittlichen Mächte eingeschrieben, denn das Unrecht, welches das abstrakte Sein an dem Individuum übt, wird so aufgelöst, »daß was geschehen ist, vielmehr ein Werk wird, damit das Seyn, das Letzte, auch ein gewolltes und hiemit erfreulich sey« . 


Die Aneignung der gegebenen Welt durch das Selbstbewusstsein »ist wesentlich das Urtheil« , d.h. nicht einfach die Affirmation des Vorgefundenen, sondern »die Legitimität von Ordnungen« als des geltenden Allgemeinen »wird in der Welt der Bildung gestiftet« . Das ist so zu verstehen, dass die sittliche geistige Welt (später der objektive Geist) als Allgemeines erst in der und durch die Bildung konstituiert wird. Indessen – und darauf hat Birgit Sandkaulen nachdrücklich hingewiesen – bleibt das Bewusstsein auch in der Bildung zerrissen, indem die Identität des und mit dem Allgemeinen im fortgesetzten Urteilen notwendig »in den Taumel ihrer Auflösung gerät« 42. Dies mache auch Hegels Absicht einer Versöhnung der modernen Welt mit sich auf dem Wege der Bildung problematisch. Vor allem aber trete im Folgenden, vor allem in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, ein blinder Fleck zutage, denn Bildung werde spätestens dort einseitig als »Bewegung hin zum Allgemeinen« thematisch, während »die gegenläufige Bewegung […], in der das Allgemeine selbst auf den Prüfstand gerät«, ausgeblendet werde . Dies war, wie oben gezeigt, bereits dort der Fall, wo diese gegenläufige Bewegung im Widerstreit der sittlichen Mächte sich gegen die Natur, das abstrakte Sein, und nicht gegen das geltende sittliche Allgemeine richtete. Auch der Gegensatz des allgemeinen und einzelnen Willens in der absoluten Freiheit wird von Hegel entsprechend modelliert. Indem das einzelne Selbst sich als absolut frei versteht und als das Allgemeine setzt, muss es die anderen Einzelnen von dieser Allgemeinheit und damit das Sein für Anderes um der absoluten Freiheit willen ausschließen:


▲ 《俄瑞斯忒亚》三部曲中译本(译作《奥瑞斯提亚》,缪灵珠编译)书影


Kein positives Werk noch That kann also die allgemeine Freyheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Thun; sie ist nur die Furie des Verschwindens. 


In dieser puren Negativität des Ausschließens und Vernichtens wird auf radikale Weise jede Allgemeinheit schon im Ansatz verfehlt, aber sie ist kein kritisches Urteilen über eine gegebene Ordnung vom Standpunkt des Individuums aus. 


Die »Furie des Verschwindens« stellt gleichwohl eine Bedrohung des Gemeinwesens von »unten« dar, die nicht einfach verschwindet, sondern beständig in Schach gehalten werden muss. Dies geschieht unter anderem durch den Krieg, der die Selbständigkeit der Individuen »von Zeit zu Zeit« erschüttert und verhindert, das sie sich in ihrem Fürsichsein gegenüber dem Allgemeinen isolieren und festsetzen, indem sie mit dem Tod konfrontiert werden; hier sind die unterirdischen Mächte in den Dienst des Gemeinwesens gestellt: 


Das negative Wesen zeigt sich als die eigentliche Macht des Gemeinwesens und die Krafft seiner Selbsterhaltung.; dieses hat also die Wahrheit und Bekräfftigung seiner Macht an dem Wesen des göttlichen Gesetzes und dem unterirdischen Reiche. 


Es sind die gezähmten Erinnyen, die Wohlmeinenden, welche hier das Allgemeine stabilisieren, indem sie das alte Werk der Rächerinnen vollbringen, den Tod, aber ohne Rache, leidenschaftslos, um des Gemeinwesens willen. 


Das Allgemeine trägt damit den Sieg »über das sich empörende Princip der Einzelnheit« davon, aber es bleibt, so betont Hegel, ein »Kampf« des bewussten Geistes der offenbaren Sittlichkeit des Staates mit dem bewusstlosen Geist . Dieser bewusstlose Geist – das niedere Recht, die unterirdische, noch naturhafte Macht der Eumeniden –


ist die andere wesentliche und darum von jener unzerstörte, und nur beleidigte Macht. Er hat aber gegen das gewalthabende, am Tage liegende Gesetz, seine Hülffe […] nur an dem blutlosen Schatten


und unterliegt deshalb. Als unzerstörte Macht aber wird er von dem offenbaren Geist in den Dienst genommen – und nur, wenn und solange dies gelingt, kann er seine Macht ausüben:


Der offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbst sichere und sich versichernde Gewißheit des Volkes hat die Wahrheit ihres Alle in Eins bindenden Eydes, nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wässern der Vergessenheit .


Was geschieht, wenn diese stillschweigende Übereinstimmung, die Hegel für die Polis-Sittlichkeit denkt, zerbricht, umgeht Hegel, obwohl gerade in der Zerrissenheit der Moderne diese Übereinstimmung auf dem Spiel steht. Die angestrebte Versöhnung des modernen Selbstbewusstseins mit sich und seiner Welt wird schon durch Hegels grundlegende Einsicht in Frage gestellt, dass die Moderne unwiderruflich und bleibend von einer Differenz geprägt ist, die sich nicht aufheben, sondern nur auf andere Weise ausbalancieren und vermitteln lässt – nämlich von der Differenz von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Hierzu heißt es im Zusatz zum Paragraphen 182 der Grundlinien der Philosophie des Rechts: 


Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt; denn als Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muß, um zu bestehen . 


Im »System der Bedürfnisse« kehrt auf gewisse Weise das Schattenreich der Unterwelt inmitten der offenbaren modernen Sittlichkeit zurück; es ist nach der Formulierung ersten Jenaer Systementwurf von 1803/04 


in ungeheures System von Gemeinschafftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit; ein sich in sich bewegendes Leben des todten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und herbewegt, und als ein wildes Thier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf.


Hegel selbst war sich bewusst, dass diese aus dem politischen Gemeinwesen herausgefallene Sphäre ein Konfliktpotential birgt, welches imstande ist, die vernünftige Grundlage des Gemeinwesens, das Recht, zu untergraben. Hierfür steht sein Begriff des »Pöbels«, der den Verlust rechtlicher Gesinnung bezeichnet . Diesetritt beim armen Pöbel dadurch ein, dass er um sein Recht gebracht wird , beim reichen Pöbel dadurch, dass er sich über das Recht hinwegsetzt . Die Empörung, die dadurch hervorgerufen wird, zeigt den inneren Verfall des Gemeinwesens an, auch wenn sie sich zumeist darin äußert, dass die beleidigten, zum Dinge gemachten Individuen als ihre Erinnyen bewußtlos ihre Rache betreiben. Wenn der rechtliche Konsens zerbricht, wird das gesellschaftlich verweigerte Recht auf Besonderheit als Faustrecht exekutiert. Diese Erinnyen suchen das innere unserer modernen Gesellschaften und die Innenwelt der globalisierten Welt unter vielerlei Gestalten heim . Nur ein Recht, in dem sie auch wirklich zu ihrem Recht kämen und das sie anerkennen könnten, würde sie versöhnen und wiederum in Eumeniden verwandeln.


▲ 黑格尔(Georg Wilhelm Friedrich Hegel,1770年8月27日—1831年11月14日)





“国际著名黑格尔专家”讲座预告



2022年9月2日

Andreas Arndt(柏林洪堡大学):

»Die Eumeniden schlafen«:  Über die Fragilität der Moderne


2022年9月9日

Klaus Vieweg(耶拿大学): 

Hegel und der Anfang der Philosophie


2022年9月16日

Jean-François Kervégan(巴黎第一大学):

The Institutionality of Sittlichkeit


2022年9月22日

Anton Friedrich Koch(海德堡大学):

Hegels Lehre vom freien Willen in der Einleitung zur Rechtsphilosophie


2022年9月29日

Michael Quante(明斯特大学):

Zwischen Würde und Pluralismus: Aktualität und Grenzen der Hegelschen Philosophie heute


·END·


近期回顾





欢·迎·订·阅


欢迎订阅《伦理学术》

投稿邮箱:ethica@163.com或fudandeng@vip.163.com

关注公众号:Academia_Ethica或长按二维码


继续滑动看下一个
向上滑动看下一个

您可能也对以下帖子感兴趣

文章有问题?点此查看未经处理的缓存